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ESSAY: Aufruf an die Bourgeoisie

Textumfang:  9 511  Zeichen

~ 6,3 DIN A4-Normseiten à 1 500 Zeichen

 

Autorin und Urheberrecht: Simone Heil

Aufruf an die Bourgeoisie

11. - 13.12.2015, Endfassung 23.01.2016

 

Geliebte Bourgeoisie,

    Manchmal stelle ich mir vor, wie es ist, als bürgerliches Kind geboren zu sein, mit bürgerlichen Eltern, am besten beide Akademiker, Mama arbeitet halbtags, Papa erbeitet Vollzeit. Aufwachsen in wohliger, materieller Sicherheit, Streitereien der Eltern inbegriffen, aber erträglich. Oh holde Kindheit, spielerisch in Licht und Schatten, unschuldig bis zu dem Tag, an dem Du bemerkst, es geht nicht allen Menschen so gut. Es gibt da auch noch welche, die heißen Arbeiter. Und die haben auch Kinder. Die sind arm. Die haben es nicht so gut wie wir. Das sieht man schon an den Klamotten. Warum haben die denn weniger Geld? Tja, die haben früher in der Schule nicht gut aufgepasst. Die sind nicht gut mitgekommen in der Schule. Die waren fauler als wir. Die haben fast niiie ihre Hausaufgaben gemacht.

    Nein, keine Angst, wenn Du nicht gut aufpasst und in der Schule nicht mitkommst, dann helfen wir Dir oder Du bekommst einen Nachhilfelehrer. Aber mach immer schön Deine Schulaufgaben. Aber da passen wir schon auf, dass Du die auch machst. Wenn Du gute Noten hast, wirst Du auch belohnt. Dann kriegst Du was Schönes. Je besser Deine Noten sind, desto mehr kriegst Du auch. Später studierst Du dann, was Du willst, aber bis dahin ist noch laaange hin. Die sind irgendwie beunruhigend, die Anderen, die Armen. Zum Glück gibt's das Gymnasium. Da sind dann nicht mehr so viele von denen, manchmal gar keine. Das sind dann die guten Armen. Von denen hältst Du Dich aber lieber fern, besonders von den Ausländern.     

    Die Schule ist die erste bürgerliche Staatsdressuranstalt unserer Kinder.

    Bis zur Pubertät können auch noch viele Arbeiterkinder mithalten, zu viele. Doch dann kommt die Pubertät. Die trifft alle gleich wuchtig, Arbeiter- und Angestelltenkinder, bürgerliche Akademikerkinder. Der Körper vibriert, die Nerven vibrieren, alles vibriert. Ups, die Erwachsenenwelt rückt näher, ganz dicht. Arbeiter- wie bürgerliche Jugendliche erkennen, sie werden in ein Schema gepresst, alles ist vorgegeben, Rollen, Regeln, Kontrolle, Funktionieren ist angesagt. Doch wir wollen frei sein, Abenteuer erleben, ungebunden sein. Schule, wozu denn Schule?

    Hilflos starren die Arbeitereltern auf ihre Kinder, ringen um Worte. Wie jetzt den Kindern, ging es einst den Eltern. Schulabbruch oder Realschulabschluss, bisschen rumlungern und abhängen, dann rein in die Arbeitswelt mit oder ohne Ausbildung und untergehen mit samt den Jugendträumen. Mühsam ringen die Eltern um Worte. Mach nicht den gleichen Fehler wie wir, geh weiter zur Schule, mach Abitur. Doch hohl klingen die Worte. Wie sollen Mutter und Vater überzeugend fordern, was sie selbst nicht geschafft haben? Wie sollen sie ihren Kindern helfen bei Lernschwierigkeiten, wie sollen sie gute Leistungen belohnen, wie...? Sie resignieren. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Die Streitereien erlahmen und das Schreien der Eltern verstummt. Resigniert wird geschwiegen.

    Gestritten und geschrien wird auch in den bürgerlichen Akademikerhaushalten. Doch hier wird auch gedroht. Wenn Du die Schule abbrichst, zahlen wir Deinen Führerschein nicht und auch das Auto gibt’s nur zum Abi. Das iphone kannst Du auch gleich abgeben, Taschengeld wird gestrichen und und und denk doch mal nach, wenn Du die Schule abbrichst, wirst Du eine-r von denen, von den Armen, die sich nichts leisten können, von nichts kommt nichts. Uns geht’s doch gut und Dir soll's noch besser gehen. Bürgerliche Akademikereltern sind gute Vorbilder, erfolgreiche Menschen. Arbeiten lohnt sich hier, führt zu Wohlstand, macht Sinn, gibt Sinn, gibt vor allem genügend Geld, um mitzuspielen, manchmal sogar ganz oben in der ersten Liga. Zähneknirschend sieht der rebellische bürgerliche Teenager ein, dass es wohl doch besser ist mitzumachen. Noch ein bisschen rumflippen und dann wieder auf die Schule und später auf's Studium konzentrieren. So soll es sein. So funktioniert der Kapitalismus.

    Und immer schön Abstand halten zu den Ungebildeten. Bloß kein Mitleid haben. Es kann nicht jeder wohlhabend oder reich sein. Und auf gar keinen Fall darf jeder Abitur machen. Wo kämen wir dann hin? Wer soll dann die Gebäude und Straßen reinigen, wer die Regale einräumen, wer die Viecher schlachten und all die anderen unangenehmen, aber lebensnotwenigen Dinge für wenig Lohn oder Gehalt erledigen?

    Was dann, wenn alle Abitur haben?, wenn alle ihr Leben lang lernen und studieren können? Dann muss die Arbeit neu eingeteilt und vor allem neu verteilt werden. Dann werden viele, sehr viele einsehen, dass bestimmte Tätigkeiten, wie z.B. Reinigungsarbeiten, nur halbtags ausgeführt werden können. Alles andere ist menschenunwürdig in Europa. Dann wird es putzende Doktoren der Philosophie geben. Vielleicht gibt es dann sogar so viele Ärzte, das auch die vier Stunden in der Woche die Klinik oder Arztpraxis reinigen, wer weiß.

    Lasst uns das Bildungsparadies in Europa gestalten.

    Wovor habt ihr Angst, Frauen und Männer der Bourgeoisie? Dass ihr teilen müsst? Dass ihr abgeben müsst? Ja, Teilen und Abgeben müsst ihr vermutlich, vor allem die Reichsten und Angesehensten unter Euch. Doch es wird vermutlich immer so etwas wie eine Elite geben, aber ich stelle mir eine Elite in einer Meritokratie vor. Es sind die an der Spitze, die sich durch überdurchschnittliches Engagement oder durch überdurchschnittlichen Fleiß oder durch überdurchschnittliches Interesse und last not least durch überdurchschnittliche persönliche Fähigkeiten hervortun. Wahr ist, überdurchschnittlich großes Privateigentum wird dann nicht mehr notwendig sein, um nach oben zu kommen. Da werden einige von Euch auf der Strecke bleiben, das ist klar, aber denen wird es materiell immer noch gut genug gehen.

    Die Bourgeoisie hat ihre Jugend gut im Griff. ... ... ...

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